Allie er-findet sich auf "Allie"

Den fast einatmenden Flüstergesang soll er sich aus der Not heraus angeeignet haben. Als Allie vor acht Jahren nach Berlin kam, war seine Bude angeblich so hellhörig, dass es zu unerwünschtem Nachbarschaftskontakt gekommen wäre, wenn er auch nur in Zimmerlautstärke gesungen hätte. Obs stimmt oder nicht: Jetzt ist die sanfte, brüchige Stimme jedenfalls sein Markenzeichen. Und das ist erstaunlich, denn eigentlich kommt er ja vom Punk, oder zumindest von ziemlich lautem Zeug mit anderen Leuten auf der Bühne. Aus kleinstädtischer Langeweile, wie er sagt, griff er zur E-Gitarre und machte mit Bruder und Kumpels eine Band auf. Mit dem Umzug in die Hauptstadt kam die eben nur teils nachbarschaftlich aufgezwungene Neuerfindung. Rückzug auf einen Nullpunkt, von dem aus Allie seinen Sound langsam wieder ausbaute.

Ein weiteres Merkmal des Neuanfangs war die Akustikgitarre mit dem nahezu festgewachsenen Loop-Pedal. Damit hatte er zunächst sein eigenes fast stilles-Kämmerlein-Orchester gebaut, wenn er live auftrat. Entsprechend waren seine Gigs wahre Orgien der zelebrierten Ruhe. Und auch wenn über die Jahre nach dem Nullpunkt immer mehr Instrumente und Sounds in seine Aufnahmen eindrangen, sie zu hypnotischen Hymnen machten, so stand doch immer im Zentrum eines jeden Songs die Gitarre, derer ein Singer/Songwriter, was Allie immer noch ist, ja schon fast generalverdächtigt wird. Doch jetzt, auf dem vierten Album, spielt sie eine Nebenrolle. Denn Allie hat sich neu verliebt.

Ja doch, Kassandra, aber mit Humor

Synths und Beatmaschine haben es ihm angetan. Und nein, es ist nicht so, dass die Gitarre noch zum Schreiben herhalten muss, und die Nummern dann ins Elektronische übersetzt werden. Allie hat sich dermaßen reingefuchst in die Schrauberei an den Klangautomaten, dass er sie auch zum Komponieren benutzt. Und wie! Das Kassandrische seiner zum Düsteren neigenden Atmosphären trifft er mit den wabernden, pulsierenden Elektrosounds noch besser als zuvor. Die Visionen wirken zwingender, seine hohe Flüsterstimme noch eindringlicher inmitten der verwunschenen Landschaften. Und trotzdem gehen ihm Humor und Selbstironie nicht verloren, wenn etwa das klaustrophobische “Y-N” sich in den fast schunkeligen Anschlusstrack “The Great” hinüberrettet, der die bedrohlichen Synths in eine großmütterliche Heimorgel verwandelt. Das muss Mut und vor allem viel Frickelarbeit gekostet haben. Und nicht nur an dieser Stelle.

Während Allie auf den letzten Alben die Songs zunächst schrieb, sie dann einübte und schließlich ins Studio ging, um sie möglichst zügig aufzunehmen, passierte dieses mal alles gleichzeitig. Schreiben, arrangieren und produzieren waren ein einziger langer Prozess, und Allie hat nahezu alles im Alleingang durchgezogen, mit eigener Technik. Offenbar ist er dieser Tage erst ganz bei sich, wenn er jeden Ton und jedes Geräusch bis zum Schluss austüfteln kann. Immerhin hat er dieses neue Album schließlich erstmals nach sich benannt: Allie.

I’m feelin for what life is when the daydreams suck
and my lion is for real, but asleep on drugs
Do I wake it for the fame or the family tree
for my sanity to stay or just for, I’d say, me
— Allie. "Y-N".

Über ein Jahr hat Allie an seinem Album gefeilt - Solange, bis er wirklich mit allem einverstanden war. Angst, sich zu verzetteln hatte er dabei nicht. Er kann auch irgendwann Abstand nehmen, wenn es gut ist. Bis hin zur Veröffentlichung bleibt Allie mit diesem Album sein eigener Chef. Er hat sich dafür die Dienste einer Plattenfirma gemietet und geht selbst ins Risiko. Ob das Konzept aufgeht, wird sich zeigen. Jedenfalls erlaubt es Allie erstmal, sich einfach nur um seine Musik zu kümmern, und das hat sich gelohnt. Nicht nur er selbst dürfte das Gefühl haben, dass sein neustes Album sein bislang größter Wurf ist.


Allie - "Allie". Motor Entertainment / RaR, 2015.

Redigierter Artikel erschienen in Melodie & Rhythmus, 05/2015.  http://www.melodieundrhythmus.com/mr-5-2015/pulsierende-elektrosounds/